Wie entsteht eigentlich Ethik?
26. Mrz. 2020 / Wissenschaft & Forschung
Jede Gesellschaft hat Vorstellungen von dem, was anständig ist. „Anstand“ (eine Art Minimal-Moral) ist zwar noch keine Ethik; denn Ethik ist das systematische Nachdenken über richtige Entscheidungen. Dennoch fußt Ethik letztlich auf diesen Anstands-Ideen. Diese verdichten sich im einzelnen Menschen zur individuellen Moral. Und wer noch einen Schritt weitergeht, wer nämlich grundsätzlich abwägt, was gut oder angemessen ist (und warum das so ist), also nach Prinzipien, allgemeinen Normen und ihrer Grundlegung fragt, der ist in der Ethik angekommen.
Tritt man dagegen einen Schritt hinter das zurück, was auf der individuellen Ebene „Moral“ genannt wird und auf der kollektiven „Anstand“, so tut sich je nach Kulturraum eine Vielzahl von Unterschieden auf. Dass das so ist – dass Kulturen in ihren Werten und Schwerpunkten so verschieden sein können – ist so wohlbekannt wie verwirrend. Warum kann dieselbe höfliche Zurückhaltung, die in einer Region als schicklich angesehen wird, anderswo als distanziert und unfreundlich gewertet werden? Weshalb eckt eine hierarchisch organisierte Gemeinschaft aus einem Kulturraum in anderen als wenig egalitär oder gar frauenfeindlich an? Wieso verurteilen Menschen aus einem Gebiet andere, deren Miteinander anders funktioniert?
Hinter dem, was wir in spezifischen Kulturen als das jeweilige Reich des Anständigen bestätigen, stehen schlicht – Erwartungen. Natürlich werden diese durch das jeweilige Kollektiv geprägt; insofern kann man eine Kultur auch als die Summe von gegenseitigen Erwartungen begreifen, die in einer Gruppe gängig sind (oder von der die Mehrheit meint, dass sie vernünftigerweise gelten sollten). Solche Erwartungen können sich auf alle möglichen Umstände beziehen: Wie schnell man in einem Laden bedient wird (oder ob überhaupt); wer zu einer Wahl gehen darf (Männer; alle Erwachsenen; auch Jugendliche; nur die Ältesten; gar keiner in einer Monarchie); wer wem wann was sagt und welche Handlungen ausführt, wenn eine Liebesbeziehung entsteht; wie die korrekte Anrede eines/einer Vorgesetzten ist (Frau Soundso; Frau Professor/Direktorin/Chefin; Sie/Du; Vorname). Diese Erwartungen entlasten einerseits – denn man muss sich nicht jedes Mal wieder neu überlegen, was denn wie zu handhaben ist. Andererseits schaffen sie einen Corpus von Quasi-Gesetzen, denen sich der einzelne (meist) unterwirft, um nicht von vornherein in Schwierigkeiten zu geraten. Oder mit denen weniger Angepasste eben doch in Konflikt geraten …
Aber auch hinter all diesen Erwartungen gibt es noch einmal eine weitere Wirklichkeit: Beziehungen. Wie zwei Menschen oder eine Mensch und eine Gruppe zueinander in Beziehung stehen, funktioniert nicht beliebig; nach der allgemeinen Beziehungstheorie von Alan Fiske, der Relational Models Theory,* existieren auch nicht unendlich viele Beziehungstypen, sondern genau vier. Je nach Beziehungstyp sind Erwartungen an die anderen – und damit auch das, was als anständig, angemessen oder richtig angesehen wird – unterschiedlich. Ein Beispiel, an dem Alan Fiske dies verdeutlicht: Wenn es brennt, können Menschen einer Gemeinschaft (1) einfach alle gemeinsam löschen, oder (2) bestimmte Personen werden von einer Autoritätsperson angewiesen, diese Aufgabe zu übernehmen, oder (3) jeder hat genau die gleiche Menge an Einsätzen (oder Bereitschaftstagen) zu übernehmen – oder (4) die Gemeinschaft bezahlt Profis, die das für die anderen erledigen. Jedes Modell hat gewisse Vor- und Nachteile und ist – sobald es etabliert ist – mit klaren Erwartungen verbunden. Schwerer wiegen die Unterschiede, wenn es nicht um die Bewältigung einer Krise geht, sondern um permanente Gesellschaftsstrukturen, um politische Macht, um starke ästhetische Kontraste (z.B. bei Fragen der Kunst oder Musik) oder den Umgang mit Ressourcen.
So entsteht Ethik letztlich aus Beziehungen – Beziehungen unterschiedlicher Art, die verschiedene Erwartungen produzieren, die sich dann in individueller Moral und kollektiven Anstandsvorstellungen verfestigen. Jede Ethik, gerade eine christliche, muss diese ganze Kausalkette nachverfolgen, um zu testen, was Bestand hat und was nur vorläufig oder von regionaler Bedeutung ist. In einer christlichen Ethik werden wir daher immer fragen, welche Elemente von Beziehungen, Kultur und öffentlichen Diskursen auf der Grundlage des Evangeliums tragfähig – und welche nur provisorisch, eingeschränkt gültig oder gar vom Evangelium zu korrigieren sind.
Prof. Stefan Höschele