Von der Weisheit im digitalen Zeitalter
04. Sep. 2019 / Wissenschaft & Forschung
Spätestens dann, wenn die Haare von Schwarz zu Weiß wechseln, sollte man sich mit dem Top-Thema „Weisheit“ befassen. Es ist im digitalen Zeitalter hochaktuell. Die Weisheit war bereits in biblischen Zeiten ein wichtiges Thema. 398-mal wird das Wort „Weisheit“ in der Bibel erwähnt. Ein Teil der Bibel beschäftigt sich mit Weisheitsliteratur. Wir denken an die Sprüche Salomos; und wir denken an weise Männer wie Mose, Josef oder David.
„Wohl dem Menschen, der Weisheit erlangt, und dem Menschen, der Einsicht gewinnt!“, steht in Sprüche 3,13; in Sprüche 4,7: „Erwirb Weisheit und erwirb Einsicht mit allem, was du hast.“
Weisheit zu gewinnen, darauf kommt es wirklich an! Weise Menschen können schwierige Fragen beantworten, vermögen es, komplexe Spannungsfelder zu bewältigen, können Gutes tun und bewirken.
Seit Urzeiten streben Menschen nach Weisheit und bewundern diejenigen, denen sie gegeben ist. Wir kennen (1) die rabbinische Weisheit. Die Rabbiner haben in der jüdischen Gesellschaft eine besondere Stellung inne. Ihre Empfehlungen sind in Legenden und Weisheitsgeschichten erhalten geblieben. Beispielsweise ist die Antwort von Rabbi Jalkut hinsichtlich des Umgangs mit Kritik überliefert: „Sagt dir einer, du hast Eselohren, so achte nicht darauf. Sagen es dir zwei, so lege dir einen Sattel auf!“ Das heißt so viel wie: Die öffentliche Meinung hat in der Regel recht.
Da ist (2) die Weisheit der alten Griechen: Sokrates gilt als ein Freund der Weisheit. Er schrieb der Weisheit die Aufgabe zu, „die Seele zu ergründen…“. Wesentlich sei es, die „Idee des Guten, dessen, was Leben wirklich mehrt und trägt und am Ende im besten Fall glücken lässt“, zu erkennen. Ein anderer Philosoph, Aristoteles, meinte: „Weise ist der, der das Rechte tut, zur rechten Zeit und in der rechten Art.“
(3) Tugendlehren gab es auch schon im alten China. Als Beispiele können hier Konfuzius und Laotse gelten. Laotse lehnte ein einseitig rationales Wissen ab und postulierte Intuition und Mitgefühl als Weg zur Weisheit. Beim Streben nach Wissen werde täglich etwas hinzugefügt, beim Streben nach Weisheit täglich etwas fallengelassen, losgelassen …
Ähnliches finden wir im (4) Islam, Hinduismus, Buddhismus.
Wie steht es mit der Weisheit heute, im digitalen Zeitalter? Wir leben im Zeitalter von Fachwissen und Digitalisierung. Das Wort Weisheit erscheint fast wie ein archaischer Anachronismus, ohne Relevanz für die Zukunft. Die digitale Welt hält uns in Atem: Die Zeit, die wir am Bildschirm verbringen, explodiert. Laut der Jim-Studie 2017 (https://www.mpfs.de/studien/jim-studie/2017/ – Zugriff: 10.5.2019) liegt der durchschnittliche Bildschirmkonsum der 12- bis 19-jährigen Mädchen bei 5:54 Stunden, von Jungen bei 6:39 Stunden. Hier noch ein paar Zahlen, die die Größe und Dimension der digitalen Welt ansatzweise beschreiben:
- 3,5 Mio. gesendete E-Mails pro Sekunde
- 5.700 Tweets via Twitter pro Sekunde
- 4.600-mal Nutzung der Such-Funktion auf Google pro Sekunde
- für ca. 2.300 US-Dollar Einkäufe bei Amazon pro Sekunde
Sillicon Valley hält uns beschäftigt – es bleibt keine Zeit für Fragen der Weisheit. Oder? Und doch besteht ausgerechnet in den High-Tech-Zentren des Silikon Valleys in Kalifornien ein enormes Bedürfnis nach einem Sinn jenseits der digitalen Algorithmen:
Soren Gordhamer startete vor einiger Zeit eine Initiative, die Tausende von Mitarbeitern von Google, Facebook, Twitter, Apple, Microsoft und anderen Firmen anzieht: Wisdom 2.0. Dabei wird die Schnittstelle von Weisheit und Technologie erforscht. Die Botschaft daraus: Wir brauchen Zeiten des Rückzugs, der Achtsamkeit, des Mitgefühls. „Menschen müssen gesehen, getroffen und gehört werden.“ Man spürt die Sehnsucht nach Weisheit im digitalen Zeitalter. Meditation über Weisheit hilft dabei: „die Freude auf Knopfdruck zu erhalten“.
Wir denken an Hollywood-Produktionen: Die Filmserie „Herr der Ringe“ war sehr erfolgreich. Eine wesentliche Figur ist darin der Weise Gandalf, der hochgewachsene hagere alte Mann mit seinen weißen Haaren und humorvoll funkelnden Augen. In ihm fokussiert sich die Sehnsucht nach Weisheit zum Verstehen und Bewältigen des Lebens.
Wir denken an die Weisheit in der Wissenschaft: Prof. Samuel Pfeifer, Mediziner, Facharzt und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie, forscht zur Weisheit als Ressource in der Psychotherapie. Prof. Judith Glück ist Psychologin und Weisheitsforscherin; seit 2007 lehrt sie an der Universität Klagenfurt Entwicklungspsychologie. Sie stellte die These auf, dass es Momente gebe, wo auch wir uns mehr Weisheit wünschten zum richtigen Fühlen, Reden und Handeln und um Probleme zu lösen. Ratsuchende in den Praxen der Psychotherapie oder Lebensberatung erwarteten oft: „Bitte sagen Sie mir, wie ich mich verhalten soll, was ich tun soll!“
An der Hochschule studieren und forschen wir. Unser Wissen wächst. Wächst auch unsere Weisheit?
Der ägyptische Dichter Nagib Mahfuz hat einmal gesagt: „Ob ein Mensch klug ist, erkennt man an seinen Antworten. Ob ein Mensch weise ist, erkennt man an seinen Fragen.“ Welche Fragen beschäftigen dich?
Weisheit – wozu? „Weise Menschen kennen das Geheimnis eines gelingenden Lebens“ (https://www.happinez.de/ vom 1. 12. 2016).
Die Grundprinzipien der Weisheit nach Judith Glück sind:
(1) Offenheit. Die Bereitschaft, sich auf neue Erfahrungen, andere Denkweisen, Veränderungen einzulassen. Sprüche 10,23: Ein Tor hat Lust an Schandtat, aber der einsichtige Mann an Weisheit. Sprüche 13,10: Weisheit ist bei denen, die sich raten lassen.
(2) Der gute Umgang mit Gefühlen. Wie sensibel ist man für die Komplexität der eigenen Gefühle, und wie gut kann man je nach Situation mit ihnen umgehen?
(3) Kritisches Reflektieren. Weise Menschen denken nach. Sie tun das gerne und mehr als andere Leute, und vor allem denken sie oft etwas weiter. Sprüche 28,26: Wer sich auf seinen Verstand verlässt, ist ein Tor; wer aber in der Weisheit wandelt, wird entrinnen.
(4) Die Überwindung der Kontrollillusionen. Die realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Wir alle haben unsere Illusionen; zum Beispiel: Mehr als die Hälfte der Menschen glaubt, überdurchschnittlich intelligent zu seinSprüche 9,10: Der Weisheit Anfang ist die Furcht des Herrn, und den Heiligen erkennen, das ist Verstand.
(5) Zeitperspektive – achten auf Nachhaltigkeit – und Werteorientierung („Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“). Ohne Weisheit begeht man Torheit. Mahatma Gandhi hat den Begriff Torheit auf den Punkt gebracht (1922), als er die sieben Todsünden der modernen Gesellschafft definierte:
- Reichtum ohne Arbeit, 2. Genuss ohne Gewissen, 3. Wissen ohne Charakter, 4. Geschäft ohne Moral, 5. Wissenschaft ohne Menschlichkeit, 6. Religion ohne Opferbereitschaft, 7. Politik ohne Prinzipien.
Durch Torheit wird die Gesellschaft zerstört; und das erleben wir auf vielen Ebenen … Wir brauchen ein Mehr an Weisheit. Und damit ist der Aufruf der Bibel hochaktuell: Sprüche 4,5: „Erwirb Weisheit, erwirb Einsicht; vergiss sie nicht und weiche nicht von der Rede meines Mundes.“
Sprüche 4,7: Erwirb Weisheit und erwirb Einsicht mit allem, was du hast.
Zusammenfassend kann Jakobus 1,5 gelten: „Wenn es aber jemandem unter euch an Weisheit mangelt, so bitte er Gott, der jedermann gern gibt und niemanden schilt; so wird sie ihm gegeben werden.“
Dr. László Szabó