Festvortrag »Zu wissen glauben« von Prof. Olbertz
14. Nov. 2024 / Wissenschaft & Forschung
Festvortrag »Zu wissen glauben« von Prof. Jan-Hendrik Olbertz
Festvortrag anlässlich des 125jährigen Jubiläums der Theologischen Hochschule Friedensau
In diesen Tagen feiert die Theologische Hochschule Friedensau ihren 125. Geburtstag. 1899 als „Industrie- und Missionsschule“ sowie adventistisches Predigerseminar gegründet, hat sie sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer europaweit bekannten kirchlichen Bildungseinrichtung entwickelt. Aber es war eine recht wechselvolle Geschichte, mehrfach wurde sie zum Lazarett umgewidmet, zunächst vom Deutschen Heer im I. Weltkrieg, dann von der Wehrmacht und schließlich von der Sowjetarmee, bis die Gebäude 1947 wieder freigegeben wurden und zum kirchlichen Lehrbetrieb zurückgekehrt werden konnte. Während der 40 Jahre in der DDR blieb das Seminar bestehen und hat sich ein bemerkenswertes Maß an institutioneller Unabhängigkeit und Selbstständigkeit bewahrt, ehe es 1990 auch die staatliche Anerkennung als Hochschule fand. Heute ist sie neben derjenigen für Kirchenmusik in Halle eine der beiden kirchlichen Hochschulen in Sachsen-Anhalt.
Bei einer Theologischen Hochschule handelt es sich um eine Einrichtung, die der Wissenschaft verpflichtet und zugleich konfessionsgebunden ist. Auf den ersten Blick scheint das, wie auch bei jeder theologischen Fakultät einer Universität, nicht recht zusammenzupassen, denn Religion ist ja etwas anderes als Wissenschaft. Das Verhältnis beider Pole indes wirft außerordentlich interessante wissenschaftliche Fragestellungen auf, und auch die Religion selbst (oder besser: die Religionen) bilden ein bedeutsames Forschungsfeld. Die Methoden aber unterscheiden sich – Wissenschaft verträgt keine unantastbaren Setzungen, so wie Religion die Suche nach Belegen oder gar Beweisen nicht verträgt (und auch nicht verlangt). Aber genau diese Spannung macht den Reiz aus, sich ihr wissenschaftlich zu widmen und Religion zum Gegenstand akademischer Bildung bzw. Ausbildung zu machen.
Vielleicht sollten wir es anfangs etwas einfacher halten und zunächst nur von Wissen und Glauben sprechen. Damit bin ich beim Thema meines Vortrages. Fangen wir mit dem Wissen an. Was ist Wissen? Thomas von Aquino nennt es kurz und bündig „Erkenntnis aus Sinneserfahrung und Verstandeseinsicht“. Zu unterscheiden sind hier gleich mehrere Begriffe voneinander: zum einen Wissen von Informationen, zum anderen Wissen von Bildung. Informationen sind noch nicht das Wissen selbst, sondern die Bausteine, aus denen es entsteht. Vor allem aber ist Wissen noch keine Bildung; man kann viel wissen, ohne gebildet zu sein, und manch ein Gebildeter fällt dadurch auf, dass er gar nicht allzu viel weiß.
Ich wundere mich immer wieder, wie selbstgewiss – wenn nicht selbstgefällig – wir davon reden, eine „Wissensgesellschaft“ zu sein. Dabei ist das augenfälligste Merkmal dieser Wissensgesellschaft, dass immer mehr Menschen immer weniger wissen. In Wirklichkeit hat uns die Wissensfülle hilflos gemacht, wir kriegen für die Schulen keinen ordentlichen Kanon mehr hin, der das wirklich Wesentliche kenntlich macht und sich ansonsten in der Kunst der klugen Begrenzung übt, wir haben Probleme, die Übersicht zu behalten, und das Internet entfremdet uns eher von selbsterlerntem und selbstgedachtem Wissen, als dass es uns lehrt, damit – und mit seiner ausufernden Vielfalt – vernünftig umzugehen. Aber davon später ...
„Wissen“ kann man quantifizieren und dann an seiner Menge verzweifeln – Bildung indes bedeutet, Wissen zu qualifizieren. Von einer „Bildungsgesellschaft“ aber habe ich bisher nirgends gehört, wohl aber von einer Glaubensgemeinschaft (wie z. B. der Ihrigen). Wenn Bildung also bedeutet, Wissen nicht einfach nur anzuhäufen, sondern es zu „qualifizieren“, dann ist danach zu fragen, worin die „Qualität“ eines solchen Wissens besteht. Sie erwächst insbesondere aus Relevanz und Konsistenz, aus historischer Herleitung und exempla- rischem Wert, also dem Abstraktionspotenzial, aus Einordnung bzw. Verknüpfung, aus Plausibilität und Anschaulichkeit und schließlich aus „Kommunikabilität“ (man muss sich darüber austauschen können). Alle diese Eigenschaften hat aber Wissen nicht von allein oder nur durch seine Auswahl, sondern erst durch die wissenschaftliche Einbettung sowie die pädagogische – oder auch künstlerische – Aufbereitung. Wissen in diesem Sinne ist also stets methodisch generiertes, sinnsuchendes Wissen – es impliziert Verstand, Verständnis und Verständigung (die berühmten „drei V“, mit denen ich das meinen Studierenden immer erklärt habe).
Für die Vermittlung von Wissen – etwa in einer Bildungseinrichtung – sind diese drei V von großer Bedeutung. Es ist ja so, dass angesichts der Menge verfügbarer Informationen "fertiges" Wissen heute kaum noch vermittelt werden kann, sondern exemplarisch sein Werden gelehrt muss, also Wege bzw. Methoden des selbständigen Kenntniserwerbs aufzuzeigen sind. Wissen ist ein Rohstoff – an einer Hochschule wie hier in Friedensau kann man ihn veredeln zu Bildung, indem es mit Bedacht ausgewählt und hergeleitet, verknüpft, geordnet, kritisch gewürdigt und relativiert, vor allem aber an Sinn und Einsicht gebunden wird, eingebettet in ein Kontinuum von Menschlichkeit und Kultur.
Wie oft aber fällt mir in diesem Zusammenhang, auch in der akademischen Welt, ein eher einseitiges Vorgehen auf. Für moderne, neuzeitliche Wissenschaft scheint das methodisch Feststellbare und Objektivierbare alles zu sein, was es gibt, oder doch wenigstens alles, womit man rechnen muss. Anspruch auf Wahrheit und Gültigkeit hat danach, was sich beobachten, klassifizieren, benennen und berechnen lässt. Für Zweifel ist da wenig Raum. Zumindest von unserem Alltagsbewusstsein her erscheint „Glauben“ so eher als Defizitgestalt von Wissen.
„Willst Du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche“, heißt es in einem Brief Friedrich Nietzsches vom 11. Juni 1865 an seine Schwester Elisabeth (Nietzsche 1954, S. 952). Und in der Tat: Wenn ich sage: „Ich glaube, dass es morgen schneit“, dann weiß ich es nicht genau, vermute es allenfalls. In einer Zeit und Gesellschaft, für die es nichts gibt außer dem, was sich empirisch nachweisen und argumentativ begreifen lässt, steht es schlecht um „das“ und erstrecht „den“ Glauben. „Mit Schmerzen sehe ich es täglich“, schrieb schon Schleiermacher, „wie die Wuth des Berechnens und Erklärens den Sinn gar nicht aufkommen lässt, und wie alles sich vereinigt, den Menschen auf das Endliche und an einen sehr kleinen Punkt desselben zu befestigen, damit das Unendliche ihm so weit als möglich aus den Augen gerückt werde“ (Schleiermacher 1868, S. 117). Nicht Atheismus oder Unmoral, sondern die „Wut des Verstehens“ als bloß nutzenorientiertes Kalkulieren war für Schleiermacher die Gegenkraft des Glaubens.
Nun sind jedoch schon von Alters einerseits Neugier und andererseits Nutzen die Universalien einer jeden Wissenschaft (vgl. Mocek 1988). Für die Wissenschaft (also Neugier, „curiositas“) charakteristisch ist die Erkenntnisperspektive, ihr Kriterium ist Wahrheit. Für die Praxis (also Nutzen, „utilitas") gilt die Verwertungsperspektive, in der Wirtschaft z.B. sind ihre Kriterien Effizienz und Ertrag. Es kommen aber, jedenfalls nach meiner Meinung, noch zwei weitere Motive hinzu: unsere unbändige Lust am Tun (die man alacritas nennen könnte), z. B. am Fliegen, wozu wir nie gezwungen waren, und schließlich das Verstehen- und Handeln-Müssen, also die Notwendigkeit der Problemlösung oder -milderung (vielleicht als necessitas zu bezeichnen). Nicht ohne Grund spricht man mit Blick auf die Antike noch von Weltwundern, in der Neuzeit von Welträtseln und heute von Weltproblemen (vgl. Olbertz 1998). Wie hat sich da über die Jahrhunderte unser Verhältnis (und unsere Haltung) zum Wissen verändert! Wissenschaft und Technik der Gegenwart sind mittlerweile zu großen Teilen damit beschäftigt, die in der Tat exakt messbaren (objektiven) Folgen ihrer ausgeuferten Nutzung und Verwertung zu erforschen und zu lindern, also die Schäden an Mensch und Natur einzudämmen.
Glauben dagegen braucht gar keine Objektivität. Es ist ein personaler Akt. Wenn ich sage: „Ich glaube Ihnen“, dann habe ich Grund, anzunehmen, dass es so ist, wie Sie sagen – ich glaube aber nicht primär der Aussage, die Sie trafen, sondern Ihnen. Glauben geht, was nicht überraschend ist, etymologisch zurück auf das germanische Gar-Laubjan, „für lieb halten“, zur gleichen Wurzel gehören u. a. „Loben“ und „Erlauben“. Dahinter verbirgt sich also, dem zu glauben, der einen liebt, und dem Treue zu geloben, der uns Vertrauen schenkt. So verstandener Glaube bezieht sich nicht auf sachliche Gründe, sondern auf eine Beziehung. Glauben in diesem Sinn unterscheidet sich vom Bescheidwissen bzw. -suchen genauso wie vom grundlosen Paradox eines „blinden“ Vertrauens. Um es auf den Punkt zu bringen: Glauben setzt auf Gewissheit, er steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit dessen, dem – oder an den – man glaubt. Vor Jahren habe ich zum Spannungsverhältnis von Wissen und Glauben einmal ein Blockseminar mit der Ordensschwester Corona Bamberg (1921–2018) von der Benediktinerinnen-Abtei vom Heiligen Kreuz in Herstelle an der Weser veranstaltet, auf deren Anregungen ich im Weiteren noch mehrfach zurückkommen werde (vgl. Bamberg 1898).
Im Alten Testament ist Glauben vor allem auf die Beziehung Israels zu seinem Gott bezogen. Im Innersten ist darin das Wunder der Errettung am Schilfmeer verarbeitet. In diesem Sinne bedeutet Glaube also Stillhalten, Vertrauenfassen und vor allem: nicht verzagen. Im Neuen Testament bezeichnet Glauben das Vertrauen auf die „Vatertreue“ Gottes, der für seine Geschöpfe sorgt (z. B. Mt 6,25–34), aber auch Gesetzestreue erwartet (vgl. Laepple 2010). Paulus beschreibt – in Nähe zu den Evangelien – Glauben auch als „Gehorsam“ (Röm 1,5; 10,16). Vor allem aber ist er Vertrauen auf die Heilstaten Jesu. Nur er verfügt über die Erfüllung der Glaubensbitte (also des Gebets).
In der heutigen Zeit empfinden es nun immer mehr Menschen als unverständlich oder altmodisch, im diesem biblischen Sinne zu glauben. Sie wehren sich gegen ein undeutliches oder spekulatives Verhältnis zur Wirklichkeit und setzen stattdessen auf das wissende Erobern der Welt, auf „Aufklärung“ und „Emanzipation“ (oft ohne zu wissen, wovon). Das macht den überragenden Wert der Wissenschaft aus. Es steckt die Vorstellung dahinter, dass sie erfolgreich die Geheimnisse unserer Welt zu erklären und insbesondere die Unzulänglichkeiten und Begrenzungen von uns Menschen aufheben könne. Wie naiv diese Annahme ist, wird offenbar, wenn man bedenkt, dass jede wissenschaftliche Wahrheit, und gibt es noch so unwiderlegbare Beweise, immer nur einen Teil der Wirklichkeit wiederzugeben imstande ist. Wissenschaft definiert sich zwar allgemein als „Gesamtheit des Wissens“, doch ein kluger DDR-Philosoph, Reinhard Mocek, hat sie einmal bestimmt als „Summe von Aussagesätzen mit mindestens einem Fragesatz“ (Mocek 1988). Ich muss hier nicht erklären, welche Verheerung dieser eine Satz mit dem Fragezeichen unter den vielen Aussagesätzen anrichtet ...
Also ist der Glaube gar kein sacrificium intellectus, „Opfer des Intellekts“ – man muss nicht seinen Verstand ausschalten, wenn man glauben will. Wissenschaft und Glaube (Wissen und Glauben) sind zwei Weisen des Welt- und Menschenverständnisses, wobei die erste (wissenschaftliche) auf Entschleierung und Veränderung zielt, die zweite auf hinhorchendes Annehmen, Vernehmen (dort kommt übrigens das Wort Vernunft her!), auf Zusammentreffen mit dem Vorgegebenen, auf Akzeptanz des Ewigen und Nicht-Verfügbaren (vgl. Bamberg 1998).
Sind diese zwei Weltsichten nun unverträglich oder nicht? Jedenfalls entziehen sich viele Probleme unseres Seins nach wie vor wissenschaftlicher Erkenntnis; ja, je mehr diese Erkenntnis fortschreitet, desto offensichtlicher wird die Unlösbarkeit sich dabei sogar zuspitzender Fragen. „Je mehr sich die Front der Wissenschaft gegen das nicht Gewusste, das wir wissen möchten und sollen, vorschiebt, je mehr und je erstaunlichere Antworten sie gewinnt“, schreibt der Religionsphilosoph Bernhard Welte, „desto mehr und desto größere und schwerer wiegende Fragen werden möglich, nicht etwa weniger“ (Welte 1975, 113).
Wissenschaft kann nur raumzeitlich denken, „Gott“ hat in ihrem Denkgebäude keinen Platz, singuläre oder völlig überraschende Vorgänge (z. B. „Wunder“) kann sie nicht erfassen oder gar messen. Doch wäre es falsch, anzunehmen, der Glaube solle lediglich die „Lücke“ für Ungeklärtes oder Nicht-Klärbares ausfüllen. Glaube im biblischen Sinn bedeutet, die Dinge auf andere Weise zu durchdringen, also einen Zugang zur ganzen Wirklichkeit des Lebens und der Welt, in der auch die Erkenntnis Platz hat, zu öffnen. Deshalb ist für Schleiermacher die Grundbeziehung des sich selbst bildenden Menschen die Beziehung auf das „Unendliche, auf das „Universum“. Doch in der Beziehung zu diesem Unendlichen sei er rein passiv empfangend: „Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewunderer“, schreibt er (ebd., 116). Aus dieser Logik ist die Religion für ihn „die einzige und geschworene Feindin aller Kleinsinnigkeit und Einseitigkeit“ (ebd., 52). Sie verhelfe dem Menschen zur Ganzheit, seinem „ungetheilten Dasein” (ebd., 10).
Die erste Einsicht wäre dann, dass ein Leben nur ein menschliches sein kann, wenn es Sinn hat bzw. sucht. Sinn aber lässt sich nicht durch Methode oder Experiment erzeugen; Sinn hat mit mehr als dem Faktischen, dem Greifbaren und Nützlichen, zu tun. Und so sagt Corona Bamberg: „Wenn ich mich entscheide für den Appell der Wirklichkeitsbewältigung durch experimentelle Wissenschaft oder für den Appell des Unverfügbaren im Glauben, dann ist das eine wie das an- dere eine Art von Glaubensentscheidung“ (ebd.).
Aus alledem haben wir gesehen: Glaube ohne Wissen ist – in unserer modernen Welt – obsolet geworden, Wissen ohne Glauben jedoch erzeugt zunehmend Ratlosigkeit.
Besonders anschaulich erlebe ich das zur Zeit am Beispiel der Digitalisierung. Vor allem die künstliche Intelligenz mit ihrer generativen Texterzeugung verlangt uns ein völlig neues Verhältnis zum Wissen und ganz neue Umgangsweisen damit ab, zumal diese Technologien uns in gewisser Weise vorgaukeln, sie würden von sich aus irgendetwas „wissen“. In Wirklichkeit operieren bzw. jonglieren sie nur mit im Internet unbegrenzt, aber auch zusammenhangslos angehäuften Informationen (von Wissen will ich hier gar nicht reden).
Digitale Technologien unterbreiten uns Denkanagebote, die wir annehmen können, ohne selber zu denken. Es gibt keine reflexive Verarbeitung und keine Verankerung in unserem Bewusstsein mehr, auch wenn das noch möglich, aber nicht mehr zwingend, ist. Wir machen uns Texte zu eigen, die wir gar nicht geschrieben, geschweige denn verarbeitet haben, kommunizieren sie, lösen damit Antworten aus, die möglicherweise ebenfalls KI-generiert sind und werden eines Tages gar nicht mehr bemerken, wie unsere emotionalen, kognitiven und sozialen Kompetenzen – mangels authentischen Gebrauchs – verkümmern. All dies schreit förmlich nach festem Boden unter den Füßen, der ganz offensichtlich in einer weiteren, puren und unreflektierten Anhäufung von Wissen nicht mehr zu finden ist. Der Glaube wird diese Lücke, ich wiederhole mich, nicht schließen, zumal er heute seinerseits Wissen, Haltung und Auseinandersetzung voraussetzt. Auch das Bekenntnis ist zu einem kognitivem Akt geworden – es verlangt, wie wir gesehen haben, eine Entscheidung.
Ich habe einmal probeweise einen Liebesbrief von ChatGPT schreiben lassen, der, abgesehen von Plattitüden und wild zusammengewürfelten Zitaten aus der Weltliteratur, vor allem eines vermissen ließ, nämlich Liebe. Die hat der Computer zu simulieren versucht, zum Glück so schlecht und so entfremdet vom Absender, dass es seiner Angebeteten hoffentlich sofort aufgefallen wäre (es sei denn, sie saß womöglich selbst schon an einer Antwort von ChatGBT).
Mittels solcher Technologien lassen wir denken, ohne zu registrieren, dass es gar kein Denken ist, was uns damit geboten wird. Denn Computerprogramme „denken“ nicht, Vernunft und Einsicht, erst recht Emotionen, sind ihnen fremd, nichts leiten sie daraus her, auch wenn ihre Aussagen auf den ersten Blick diesen Eindruck erwecken mögen. Ebenso wenig sind sie zu Empathie fähig, doch ahmen sie deren sprachliche Ausdrucksformen zunehmend routiniert nach, erzeugen de facto Fälschungen und machen am Ende womöglich unseren ganzen Umgang miteinander zur Fälschung. Verantwortung (auch dafür) übernehmen sie schon gar nicht.
Das KI-Zeitalter gibt tatsächlich Anlass zur Sorge um die Zukunft, vor allem um den Bestand unseres überlieferten Bildes vom Menschen und vom Menschsein, und das in einem Maße, wie es uns bisher nie abverlangt wurde, und worauf wir nicht gut vorbereitet sind. Um so dringlicher müssen Gegenkräfte mobilisiert werden, die die digitalen Potenziale nicht verdammen oder verweigern, sondern ihren Einsatz auf eine intelligente, geregelte, wertebewusst reflektierte Haltung gründen.
Das ist Aufgabe und Verpflichtung gerade einer theologischen Hochschule. Sie muss solche Fragen mit den Studierenden erörtern und ihnen eigenständige geistige Leistungen abverlangen, und zwar solche, die kein Computer erbringen kann. Zudem bedarf es – in einem Umfang wie nie zuvor – der geisteswissenschaftlichen Durchdringung naturwissenschaftlich-technologischen Wissens und Denkens, und damit Interdisziplinarität im umfassendsten Sinn. Dann wäre der Widerspruch zwischen Wissen und Glauben überwindbar; sie könnten einander – auch und gerade in der modernen Welt – sinnstiftend ergänzen.
Die Frage nach einer solchen Synthese ist bildungstheoretisch hochinteressant. Sie ist so alt wie die Geschichte menschlichen Denkens. „Fides quaerens intellectum“ heißt die klassische Formel dafür: Glaube, der Einsicht sucht.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie auch nach weiteren 125 Jahren noch mit Freude auf dieser Suche sind.
Verwendete Literatur:
- Bamberg, Corona: Unveröffentlichtes Manuskript zu einem Blockseminar mit Studierenden der Mar:n-Luther- Universität Halle-Wittenberg am 8. Juli 1998 in der Benediktinerinnen-Abteil vom Heiligen Kreuz in Herstelle an der Weser.
- Nietzsche, Friedrich Wilhelm: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3 (1861–1889).
- Laepple, Ulrich (Hrsg., in Verbindung mit Hartmut Bärend und Wolfgang Neuser): Biblisches Wörterbuch. Wien 2010.
- Mocek, Reinhard: Neugier und Nutzen. Blicke in die Wissenschaftsgeschichte. Dietz Verlag Berlin 1988, im selben Jahr auch bei Pahl-Rugenstein in Bonn erschienen (Reihe Studien zur Dialektik).
- Olbertz, Jan-Hendrik: Neugier – Nutzen – Not. Vom Wandel unseres Wissenschaftsbegriffs, den Fächern und den Folgen für die Bildung. In: Olbertz, J.-H. (Hg.): Zwischen den Fächern – über den Dingen? Universalisierung versus Spezialisierung akademischer Bildung. Opladen 1998.
- Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Hrsg. v. Carl Schwarz, Leipzig 1868.
- Welte, Bernhard: Gotteserkenntnis und Möglichkeit des Atheismus, in: Bernhard Welte: Zeit und Geheimnis. Philosophische Abhandlungen. Freiburg im Breisgau
Prof. Dr. paed. habil. Jan-Hendrik Olbertz
Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin Präsident a. D. der Humboldt-Universität zu Berlin
Kultusminister a. D. des Landes Sachsen-Anhalt
International Psychoanalytic University (IPU)
Stromstraße 1, D-10555 Berlin
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